Andrii (17) aus der Ukraine: „Alles, was ich mal hatte, ist weg“
Junger Musiker lebt jetzt mit Mama und Schwester in Lennestadt
- Kreis Olpe, 10.04.2022
- Ukraine
- Von Kerstin Sauer

Lennestadt/Ukraine. 17 Jahre lang hat Andrii ein ganz normales Leben geführt. Ging in die Schule, traf sich mit Freunden, spielte für sein Leben gerne Gitarre. Doch seit drei Wochen ist alles anders: Gemeinsam mit seiner Mama Julia (41) und seiner kleinen Schwester Sophia (1) flüchtete er aus der Ukraine. Vor einigen Tagen ist Andrii in Lennestadt angekommen. Mit LokalPlus sprach er über den Abschied und die Ankunft, sein altes und sein neues Leben. Und über seine Gitarren, die er in der Ukraine zurücklassen musste.

Im strömenden Regen kommen Andrii und Matthäus mit dem Fahrrad an der LokalPlus-Redaktion an. Triefend nass, aber strahlend: Matthäus freut sich, dass sich sein Schützling, den er von der ukrainischen Grenze mit nach Lennestadt brachte (LP berichtete), so gut eingelebt hat. Und Andrii ist glücklich, dass er es hier so gut angetroffen hat – und dass er aus der EiL-Fahrradwerkstatt dieses tolle Mountainbike bekommen hat.

Andrii kommt aus Polohy. Ein normaler Junge, der es liebt, Gitarre zu spielen: E-Gitarre, Bass-Gitarre und Akustik-Gitarre. Mit seinen Freunden hat er eine Band.

Von dem Moment an, als der Krieg beginnt, halten er, seine Mama, die kleine Schwester und der Stiefvater sich in Saporischschja auf, einer Stadt nicht weit von Mariupol. Als eines Morgens um 4 Uhr eine Rakete das Bahnhofsgebäude zerstört, entscheidet sich die kleine Familie, die Stadt zu verlassen. „Es war zu gefährlich“, berichtet Andrii auf ukrainisch, während Matthäus übersetzt.
Während der Stiefvater, die Oma und seine Freunde in der Ukraine zurückbleiben, erreichen die drei Flüchtenden erst ein Dorf vor der Stadt, bevor sie mit dem Zug Richtung Polen fahren. Eine Entscheidung, die ihnen unglaublich schwer fällt: „Unsere Heimatstadt ist inzwischen unter russischer Besatzung. Meine Oma ist noch da, meine Freunde, meine Schule, meine Gitarren – alles, was ich mal hatte, ist weg“, berichtet der junge Mann zurückhaltend.

Ruhig sitzt er neben Matthäus am Tisch in der LokalPlus-Redaktion, verfolgt aufmerksam das Gespräch, versucht, deutsche Wortfetzen aufzufangen und zu verstehen. Die braunen Haare reichen ihm bis auf die Schultern, freundliche Augen hinter der schlichten Brille beobachten genau das Geschehen im Raum. Augen, die in den vergangenen Wochen schon viel zu viel sehen mussten.

„Wir wussten nicht, was auf uns zukommt. Was morgen passiert. Von einem Augenblick auf den anderen hat sich die Welt geändert.“ Im Zug Richtung Polen trifft die kleine Familie auf viele, viele Menschen, die aus Mariupol geflüchtet sind. Andrii erinnert sich mit leiser Stimme: „Neben uns saß ein Mann mit angeschossenem Bein. Die Wunde war verbunden, aber er hatte noch seine alte Jeans an, blutig und mit Loch.“
War das seine erste direkte Begegnung mit dem Krieg? Andrii schüttelt den Kopf: „Den ersten Kontakt hatte ich, als die Mutter und die Oma einer Klassenkameradin erschossen worden sind.“

Andrii, seine Mutter und die kleine Schwester erreichen die Aufnahmestelle in Rzeszow. Nach nur drei Tagen in dieser Unterkunft begegnen sie den vier Helfern aus dem Sauerland, Matthäus, Sabine, Barbara und Sarah. Und entscheiden sich spontan, mit ihnen nach Deutschland, nach Lennestadt zu fahren.
Auf der Rückfahrt erkrankt die kleine Schwester an Brechdurchfall, muss sofort nach der Ankunft mit der Mama in die Kinderklinik nach Siegen. Mit Unterstützung von Matthäus und den anderen Helfern lebt sich Andrii die ersten Tage alleine im Kreis Olpe ein: Die Familie kommt in Grevenbrück in einer Privatwohnung unter.

„Eine tolle Wohnung. Eine tolle Gegend. Ich bin begeistert von der Architektur und der Natur hier“, schwärmt der 17-Jährige. Und fügt dankbar hinzu: „Und von den unheimlich freundlichen und hilfsbereiten Menschen.“
Über das Handy hält der junge Mann Kontakt in die Heimat. Er weiß, dass direkt neben seinem Haus eine Rakete eingeschlagen ist. Und dass alle seine Lieben noch am Leben sind – an unterschiedlichen Orten in der Ukraine.

Online und per YouTube nimmt Andrii weiterhin am Unterricht in der Heimat teil, um seinen Abschluss zu machen. „Ich möchte jetzt erstmal Deutsch lernen“, erzählt er. Wie es auf lange Sicht weitergeht, weiß er nicht. „Im Moment geht mir alles gleichzeitig durch den Kopf. Wie ist es zu Hause? Wie kann es in der Ukraine wirtschaftlich weitergehen? Wo können wir eine Zukunft haben?“
Matthäus, der viel Zeit mit dem jungen Mann verbringt, mit ihm Zug fährt und ihm das Leben in Lennestadt erklärt, ist sich sicher, dass Andrii seinen Weg gehen wird. „Er ist ein toller Junge. So wissbegierig, so schlau.“ Der junge Ukrainer dankt ihm mit einem Lächeln.
Eine letzte Frage brennt uns noch unter den Nägeln: Wenn du drei Wünsche frei hättest – welche wären das? Andrii überlegt kurz. Und antwortet dann mit fester Stimme: „Der Krieg soll beendet werden. Die, die gestorben sind, sollen wieder zurückkommen. Und ich hätte so gerne meine Gitarren zurück.“