Von Charkiw nach Lennestadt: Ludmilla flieht vor dem nackten Grauen

80-Jährige hofft, zu ihrer Tochter nach Leipzig zu kommen


  • Lennestadt, 03.06.2022
  • Ukraine
  • Von Kerstin Sauer
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Die Erleichterung steht Ludmilla (Mitte) ins Gesicht geschrieben: Die 80-Jährige darf Matthäus (r.) nach Lennestadt begleiten. von privat
Die Erleichterung steht Ludmilla (Mitte) ins Gesicht geschrieben: Die 80-Jährige darf Matthäus (r.) nach Lennestadt begleiten. © privat

Lennestadt. Vertraut sitzen Matthäus (38) und Ludmilla (80) nebeneinander am Tisch. Unterhalten sich, sie auf ukrainisch, er übersetzt für die Besucher. Gemeinsam erzählen sie die Geschichte ihres Kennenlernens: vor knapp einer Woche, in der zerbombten und völlig zerstörten Stadt Charkiw im Nordosten der Ukraine, nur wenige Kilometer von Russland entfernt gelegen. Mitten im Kriegsgebiet. Eine Geschichte von Leid, Trauer, Hilfe und Freundschaft. Und von einem Neuanfang.


Es war die bereits dritte Fahrt von Matthäus in Richtung Ukraine. Der 38-Jährige, engagierter Ehrenamtler bei „Lennestadt hilft“, war zuvor mit weiteren ehrenamtlichen Helfern aus Lennestadt zuerst an der polnischen Grenze, beim zweiten Mal direkt in der Ukraine, in Lemberg (LokalPlus berichtete). Seine dritte und vorerst letzte Fahrt sollte ihn mitten ins Kriegsgeschehen führen, in das 2.400 Kilometer entfernte Charkiw.

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Eine Reise, die sein Leben verändert hat. „Der Krieg kam in Etappen immer näher“, berichtet der 38-Jährige. Gemeinsam mit der Ukrainerin Olga fährt er durch unberührte, herrliche Landschaften und kommt in einer völlig zerstörten Stadt an. „An der Grenze sah man die ersten Panzer, Gewehre, Militärfahrzeuge. In Lemberg erlebten wir zum ersten Mal einen Luftalarm. Und in Charkiw waren wir mitten im Krieg.“

Eine Stadt – übrigens die zweitgrößte der Ukraine – die bekannt war für ihre Schönheit, für wunderbare Gebäude und viel Kultur. Jetzt ist alles zerstört. „Die russische Armee steht vor Charkiw“, erzählt Matthäus. Den Menschen in den Dörfern rund um die Stadt gehe es am schlechtesten. „Dort wollten wir unsere Hilfe hinbringen.“

Überall in Charkiw sieht man die entsetzlichen Spuren, die der Krieg hinterlassen hat. von privat
Überall in Charkiw sieht man die entsetzlichen Spuren, die der Krieg hinterlassen hat. © privat

Über eine Kontaktperson kamen sie in einem Stadtteil im Nordosten der Stadt unter. Einst dicht besiedelt, sind die Hochhäuser heute zerstört. Die Menschen leben am Existenzminimum, immer in Angst vor neuen Angriffen. Sie schlafen in Kellern.

Dort treffen Olga und Matthäus auf Angela, die sie in den nächsten drei Tagen begleiten wird. Angela gehört einer Hilfsorganisation an, die die Menschen in den umliegenden Ortschaften mit dem nötigsten versorgt. „Soldaten kommen zu ihr, berichten von Menschen, die sie in Kellern gefunden haben, und geben weiter, was dort fehlt. Angela packt dann Pakete für diese Menschen“, erklärt Matthäus.

Angela gehört einer Hilfsorganisation an, die Menschen in den zerstörten umliegenden Ortschaften mit dem Nötigsten versorgt. Soldaten finden diese Menschen in Kellern: Mütter, Kinder, Senioren. von privat
Angela gehört einer Hilfsorganisation an, die Menschen in den zerstörten umliegenden Ortschaften mit dem Nötigsten versorgt. Soldaten finden diese Menschen in Kellern: Mütter, Kinder, Senioren. © privat

Mit den Spendengeldern, die über „Lennestadt hilft“ zusammen gekommen sind, kaufen Matthäus und Olga ein. Zahnbürsten und Zahnpasta, Getränke und Nahrung, Medizin und alles, was dringend gebraucht wird.

Die Nächte verbringen die beiden Helfer im Keller – und erleben hier hautnah, wie viel Elend, Angst und Armut in der einst so schönen Stadt herrschen. Matthäus berichtet: „Bis zu 60 Menschen schlafen dort auf rund 100 Quadratmetern auf Isomatten. Mitten in der Nacht beginnt die Bombardierung. Stundenlang. Manchmal hört man ein entferntes Donnern, immer öfter beben die Wände, schwanken die Häuser hin und her.“

Ludmilla ist mit Matthäus und Olga nach Lennestadt gereist. Endlich in Sicherheit. Auf der Ukraine-Karte zeigen die beiden, wo Charkiw liegt. von Kerstin Sauer
Ludmilla ist mit Matthäus und Olga nach Lennestadt gereist. Endlich in Sicherheit. Auf der Ukraine-Karte zeigen die beiden, wo Charkiw liegt. © Kerstin Sauer

Hier, in diesem Haus, begegnet Matthäus zum ersten Mal Ludmilla. Die Seniorin hat schon den zweiten Weltkrieg erlebt. Und wurde jetzt wieder vom Krieg eingeholt. Mit Tränen in den Augen spricht sie Matthäus an: Ob sie mit ihm fahren dürfe, ob Deutschland auch alte Menschen aufnehme?

„Sie war psychisch am Ende“, erinnert sich Matthäus, immer noch ergriffen von der Erinnerung an dieses Treffen. Die Bombardierungen, die ständige Angst vor Angriffen haben psychisch zermürbt. „Sie wollte vor dem nackten Grauen fliehen.“

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Die Fahrt Richtung Deutschland.

Matthäus und Olga nehmen Ludmilla mit in das 2.400 Kilometer entfernte Lennestadt. Bringen die fast 80-Jährige in ein Land, das sie nicht kennt. Hauptsache in Sicherheit. Dort kommt die Seniorin erst einmal in einer zentralen Unterkunft unter – und beginnt, die vergangenen Monate zu verarbeiten. Tagsüber geht es. Nachts kommen die Angst und die Verzweiflung. Ihr größter Wunsch: Zu ihrer Tochter nach Leipzig zu kommen.

„Ich versuche gerade irgendwie eine Fahrt für sie dorthin zu organisieren“, sagt Matthäus. Und wer den jungen Mann kennt, der weiß: Auch das wird er irgendwie schaffen. Gemeinsam mit dem Team von „Lennestadt hilft“, das in den vergangenen Monaten schon so viel geleistet hat.

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